Melodie der Erinnerung
Gleich werden sie hinter dem blendend weißen Felsen majestätisch hervorreiten, denke ich mir, die beiden Blutsbrüder. Und dazu wird die unvergessliche Musik ertönen, die eine ganze Generation geprägt hat. Das war sooo romantisch, sooo heldenhaft, sooo traurig und so herrlich kitschig. Winnetou und Old Shatterhand, hier könnte es gewesen sein. In dieser Karstlandschaft, an der 2082m messenden Hochplatte. Die gleicht der aufs Haar, in der die beiden edlen Helden unentwegt die bösen Machenschaften übler Schurken bekämpften.
Klar, jetzt werden wieder ein paar Neunmalkluge um die Ecke biegen und mir erklären, dass die doch damals mit Pierre Brice und Lex Barker im ehemaligen Jugoslawien… und so weiter. Ja, weiß ich doch. Aber träumen wird man ja wohl noch dürfen, oder?
Mal von Anfang an
Wir sind also an der Hochplatte. Die in den Ammergauer Alpen. Das muss man dazu setzen, denn es gibt nicht nur eine Hochplatte in den Alpen. Fast jeden Tag bewundern wir von unserer Wohnung aus diesen Berg, der da mit seinem fast weißen Wettersteinkalk in voller Breite vor unseren Augen steht. Besonders eindrucksvoll wirkt er in der Abendsonne.
Klar, dass wir den irgendwann auch mal näher kennenlernen wollen.
Der Name stimmt, eine hoch gestellte Platte ist dieser Berg tatsächlich, mit teilweise ziemlich scharfem Grat, was laut Tourbeschreibung für Überschreitungen Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfordert. Ich kenne so etwas von meinen Klettersteigtouren, mag solche Balanceakte aber nicht sonderlich, besonders, wenn sie nicht gesichert sind. Man wird sehen. Überschreiten wollen wir den Berg heute sowieso nicht, die schwierigste Passage über das „Fensterl“ sparen wir uns damit.
Kühler Start an der Kenzenhütte
Los geht es früh am Morgen an einer Haltestelle in Halblech. Die Sonne lacht vom Himmel, alles deutet auf einen wundervollen Wandertag hin. Wir warten auf den kleinen Wanderbus zur Kenzenhütte auf 1300m, von der aus wir die Tour auf die Hochplatte starten wollen. Der gut genutzte Bus erspart dem Wanderer in einer 25 Minuten dauernden Fahrt einen Aufstieg von 500 Höhenmetern und 12 Kilometern Länge. Dazu ist die Forststraße größtenteils eher langweilig und teils sehr steil.
„Mann, ist das kalt“, entfährt es mir, als ich an der Kenzenhütte aus dem Bus steige und die ersten Schritte auf dem Splittweg mache. Die Bodentemperatur liegt irgendwo bei geschätzten 7-8°C. Mit leicht umwölkter Miene ziehe ich mir meine warmen Sachen an…
Eva schaut da schon etwas heiterer drein, obwohl auch sie von den fast winterlichen Bedingungen überrascht ist. Die kurze Hose passt im Moment eher nicht…
Vor uns liegt die sonnenbestrahlte Nordseite der Hochplatte. Das ganz rechts sieht aus wie der Gipfel, ist es aber nicht. Der ist noch ein gutes Stück höher, ist aber aus dieser Perspektive verdeckt. Trotzdem, dieses Panorama motiviert uns enorm.
Der unvermeidliche Schotter
Der zunächst breite Weg ist gründlichst geschottert, trotzdem versuchen wir es erst einmal eine ganze Weile barfuß.
Eva greift aber in ihre Trickkiste, zu ihrem Eva-spezial Minimalschuh, ihrer neuesten Erfindung. Ein paar Lagen Tape um den Ballenbereich gewickelt, das ist es schon. Damit kommt sie aber überraschend gut voran. Nur einen Nachteil haben diese „Tape-Minimalos“: man kann sie nur einmal benützen…
Ich versuche es erst einmal eine ganze Weile so, zumal es auch angenehmere Wegstücke gibt, wie dieses hier…
…greife dann aber irgendwann doch auf meine Mares zurück. Die Tour ist noch lang, und ich will mir meine Fußsohlen nicht schon zu Beginn auf diesem künstlichen Wegbelag sauer laufen.
Über grüne Matten
Zum Glück geht diese Passage nach einer Weile in eine angenehmere Wegstrecke mit erdigem Untergrund und grasigen Abschnitten über. Geröll gibt es auch, aber das ist doch was Anderes als diese Schotterstrecken auf Forstwegen. Ich kann jedenfalls wieder barfuß laufen. Dazu gibt es diese Traumlandschaft mit Winnetou-Feeling.
Schließlich stoßen wir an eine Wegverzweigung. Geradeaus kann man zum Parkplatz Ammerwald absteigen, dem alternativen Startpunkt, wenn man mit dem Auto von Reutte via Plansee oder von Oberammergau via Schloß Linderhof kommt. Nur sind es dann 200 Höhenmeter mehr zu steigen als von der Kenzenhütte aus.
Hinauf zur Hochplatte
Nach rechts weist das Schild den Weg zur Hochplatte mit dem Hinweis auf die alpinen Gefahren.
Der Weg führt jetzt endgültig hinein ins Karstgebiet, mit einer herrlichen Komposition aus Pflanzenwelt, weißen Felsen und blauem Himmel.
Fordernd ist er allerdings schon, dieser Untergrund. Von einem Weg kann nicht mehr gesprochen werden. Man folgt vielmehr den roten Markierungen über eine Unzahl von kleinen und mittelhohen Felsrippen. Barfuß ist es da zuweilen nicht einfach, die Balance zu halten, höchste Achtsamkeit ist vonnöten.
Aber wir lassen uns Zeit, wir haben genug davon.
Im Vorland grüßt der Forggensee herauf.
Das Ziel können wir auch schon sehen, die kleine Spitze links am Ende der Bergschulter.
Vor uns liegt aber erst einmal das wildeste Stück der Tour, treffend der „Wilde Freithof“ genannt. Sieht tatsächlich aus, wie ein Friedhof, mit abertausenden von Grabsteinen.
Hohe Felsrippen gibt es hier, tiefe, dolinenartige Löcher, dazwischen Latschenbewuchs. Wir haben alle Barfüße und Hände voll zu tun…
Unter uns sehen wir einen Teil des Weges, auf dem wir gekommen sind. Links darüber der vordere Scheinberg (1827m), der in Wirklichkeit den „Kraterrand“ einer großen Doline bildet, dem sogenannten Kessel.
Irgendwann ist dieser wüste Felsfriedhof auch durchquert, das Panorama weitet sich. Im Hintergrund erhebt sich die Zugspitze über die Ammergauer Alpen.
Am Osteck
Vor uns liegt das nächste Wegstück, von der Charakteristik her wieder völlig anders. Ein steiler Felskegel wartet da auf uns. Tatsächlich markiert dieser Kegel die östliche Seite des Hochplatten-Gipfelgrats.
Eva schaut ihn sich an, überlegt, und entscheidet schließlich für sich, den Aufstieg hier zu beenden. Ihre Beine geben deutliche Signale, dass sie erst einmal genug haben.
Ich bin etwas enttäuscht, aber natürlich ist Eva’s Wohlbefinden wichtiger als ein gemeinsames Gipfelerlebnis. Weit ist sie dennoch gekommen, bis zum Osteck der Hochplatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt, aber es folgt dennoch ein sehr steiler Aufstieg. Der Pfeil auf dem nachfolgenden Sicht auf die Hochplatte von Roßhaupten aus zeigt, bis wohin sie es geschafft hat. Aber schön ist es auch hier schon, keine Frage. Eva richtet sich auf eine erholsame lange Pause ein.
Gipfelsturm
Ich ziehe bald weiter und nehme die letzten Höhenmeter unter die baren Füße. Steil geht es hinauf.
Eva erwischt von ihrem Platz aus den Moment kurz bevor ich den Gipfelgrat erreiche.
Oben angekommen ist der Weg zum Gipfel nicht mehr weit. Ein paar Höhenmeter sind es noch, vor allem am Gipfelkegel, aber das macht den Kohl jetzt auch nicht mehr fett…
Mich überascht die Talmulde mit Bachlauf, die sich in den Gipfelgrat eingesenkt hat. Wahrscheinlich auch eine Erscheinung des Karst, bei dem Regenwasser permanent Kalkgestein auflöst und an anderer Stelle wieder abscheidet.
Eine etwas kitzelige Stelle wartet direkt voraus, wo etwas Schwindelfreiheit gefordert ist. Auf dem Foto oben sieht man es nicht so gut, der Grat ist tatsächlich schmal. Rechts und links geht es steil weit hinab. Abrutschen streng verboten. Aber die Seilsicherung entspannt das klettersteigerfahrene Gemüt…
Dieser Blick zurück zeigt es besser…
Panorama mit Alpendohlen
Am Gipfel erwartet mich in alle Richtungen ein Panorama der Extraklasse, bis hin zu den Ötztaler Alpen mit der vergletscherten Wildspitze.
Ich mache es mir am Gipfel gemütlich, soweit es der Platz zulässt. Alleine bin ich nicht, die Hochplatte ist ein beliebtes Ziel. Aber es hält sich in Grenzen.
Kaum habe ich meine Brotzeit ausgepackt, bekomme ich Besuch, der mich eindringlich, fast hypnotisch anstarrt. Eine Alpendohle.
Ich bewundere diese Flugakrobaten und ständigen Bewohner der hochalpinen Zone. Hier oben gibt es sie in großer Zahl, ich schätze sie auf mindestens Hundert, die ihre Flugkunststücke zuweilen im Schwarm vorführen. Flügelschläge sind dabei verpönt. Alles geht im Segelflug. Hundert Meter im Sturzflug ins Tal, dann innerhalb von Sekunden in den Hangwinden wieder hinauf zum Raubzug am Gipfelkreuz. Sie wurden sogar schon am Mount Everest in einer Höhe von 8200 m gesichtet. Der reine Wahnsinn.
Aber nicht nur ich amüsiere mich über diese schwarzen Gesellen. Unten, am Osteck opfert Eva einen Teil ihrer Datteln für eine kleine, aber feine Fotoserie…
Danach ist Entspannung angesagt.
Und das Portraitshooting einer Teufelskralle.
Zum „richtigen“ Gipfel
Ich schaue derweil am Gipfel sehnsüchtig den Wanderern nach, die sich auf dem Gipfelgrat an die weitere Überschreitung der Hochplatte machen.
Nun ja, ein Stückchen könnte ich ja auch noch weitergehen, denke ich mir, zumal ich ja noch gar nicht am richtigen Gipfel der Hochplatte war. Das ist nämlich die Erhebung am Ende des Grats, die noch 3 Meter höher ist als die Stelle mit dem Kreuz. Wenigstens da will ich noch hin…
Gesagt, getan. Dort angekommen, sehe ich den weiteren Verlauf des Steigs. Es wird etwas komplizierter. Das muss ich mir für heute leider sparen. Eva wartet…
Der Blick vom eigentlichen Gipfel auf den „Kreuzgipfel“. Man sieht gut, wie ausgesetzt das Gelände ist.
Zurück zur Hütte
Dann geht’s auf gleichem Wege wieder zurück durch’s Winnetouland, hinab zu Eva, durch den Wilden Freithof, über die alpinen Wiesen mit den flankierenden Bergen, über den langen Schotterweg zur Hütte. Natürlich nicht mehr barfuß, sondern in meinen Mares wie immer bergab. Eva trägt ihre Leguano.
Am Ende der langen Tour wartet die Einkehr auf der Terrasse unseres Startorts… Allerlei Leckeres gibt es da, z.B. eine Kaspressknödel-Suppe, die ich mir gönne. Eva bevorzugt den Teller mit im Ofen gebackenem Hüttenkäse und Salat. Köstlich.
Schön war es, aber auch anstrengend für Muskeln und Fußsohlen.
Ich bin Jahrgang 1955, Vater zweier erwachsener Töchter, und verbringe seit dem Sommer 2016 viel Zeit im traumhaft schönen Allgäu bei Füssen, wo Eva schon länger ihr Zelt aufgeschlagen hat. Hier kann ich zusammen mit ihr meiner Berg- und Radfahrleidenschaft frönen. Barfuß lebe ich seit 2012. Ich bin Autor von „Fünf Jahre barfuß„.
Hallo, ich bin Thomas aus Baden- Württemberg. Auch ich laufe total gerne immer dann, wenn es möglich ist, barfuß. Auf der Hochplatte war ich auch schon; ebenfalls von der Kenzenhütte aus, aber nicht barfuß. Ich habe sogar die ganze Überschreitung gemacht, eine, wie ich meine, recht rassige Tour. Das war mal im September an einem klaren sonnigen Bergtag mit geradezu „seidigenfeiner Luft wie das im Gebirge nur im September gibt. Neben Alpendohlen habe ich auch Gämsen gesehen; nicht allzuviele, aber mal eine Einzelne und mal auch ein kleines Rudel.
Hallo Thomas, das Gestein der Hochplatte (Wettersteinkalk) ist wirklich sehr fordernd für die Füße. Da sind Schuhe keine Schande 😉 Gämsen gibt es reichlich in den Allgäuer Alpen. Ich habe schon mal um die 40 von ihnen auf einer einzigen Tour gesehen. Ich warte aber immer noch darauf, auch mal einen Steinbock zu sehen. Die soll es hier nämlich ebenfalls geben.
Dir weiter viel Spaß beim Barfußlaufen. LG Wolfgang
Hallo Ihr beiden,
wie immer ein toller Bericht, mit wunderschönen Fotos.
LG. CP
Danke 🙂
LG Wolfgang