Auf dem Langen Strich?
Wahnsinn, jetzt rutscht der Blog ins Rotlichtmilieu ab, das ist ja wohl klar!
Also wirklich, das hättet Ihr wohl gerne. Wenn dem so wäre, dann würden wir in der Folge wahrscheinlich vom höchstgelegenen Rotlichtviertel Europas sprechen. Es läge in einer Höhe zwischen 1650 und 1950 Metern. Nee, Freunde, der Lange Strich ist keine Bordellmeile, sondern eine Aufstiegsroute auf einen Berg, den Aggenstein (1986 m) im Tannheimer Tal, südlich von Pfronten. Sie zieht sich in engen Kehren von der Basis der nördlichen Felsabstürze des Berges über ein schmales, steiles Grasband schräg hinauf zum Gipfelaufbau.
Hier ein Winterbild, von der Ostlerhütte auf dem Breitenberg aufgenommen. Man sieht gut, wie sich der Weg über den Langen Strich nach oben windet. Eine tolle lange Rutsche mit Fragezeichen, was das Bremsen angeht…
Aber nun ist es ja endlich sommerlich, der Schnee größtenteils weggetaut. Der Entschluss zu dieser Wanderung fällt an diesem Morgen dennoch ziemlich spät. Vorher müssen noch ein paar Erledigungen gemacht werden. Zusätzlich erwartet Eva Gäste in der Ferienwohnung und kann deshalb leider nicht mitwandern.
Später Start mit der Bahn
Es ist schon 11 Uhr, als ich am Breitenberglift ankomme. Die Bahn soll mir den langen und zeitraubenden Anstieg vom Tal hinauf zum Fuß des Aggensteins ersparen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Ganz offenbar bin ich nicht der Einzige, der diese Idee hatte. An der Kasse der Bahn steht schon eine lange Schlange von Bergfreunden, die ähnlich drauf sind wie ich… .
Es ist aber auch zu schön, so bequem nach oben zu schweben…
Oben angekommen, muss man tatsächlich zu Fuß gehen, aber nur von der Kabinenbahn zum Sessellift, der mich schließlich auf die Hochalpe am Fuß des Aggensteins befördert.
Die Wanderung kann losgehen
Oben angekommen ist Schluss mit dem lustigen Liftleben. Es geht los zum Langen Strich, barfuß, versteht sich. Zu Anfang ist es noch einer dieser typischen gesplitteten Wege , der sich aber prima am Rand bewältigen lässt. In Bayern ist leider nur ein von Rand zu Rand geschotterter oder gesplitteter Weg ein guter Weg, Grasmittelstreifen sind absolutes no-go…
Unterwegs entdecke ich eines der „Menschengatter“, das wohl wie schon am Hörnle Wanderer beim Rasten vor den Kühen schützen soll…
Auf dem Langen Strich wandelt sich der breite Splittweg in einen der typischen Geröllpfade, die zunächst einmal übel aussehen, dann aber barfuß doch ganz gut zu begehen sind, wenn man es einigermaßen gewohnt ist.
Hin und wieder gibt es kleinere Kletterpassagen.
Die alpine Vegetation begeisterte mich schon als Kind.
Immer weiter zieht sich der Weg hinauf, barfuß alles kein Problem.
Schließlich verläuft der Weg etwas weniger steil hinauf auf eine grasbewachsene Schulter.
Auf der Schulter öffnet sich der Blick auf ein grandioses Panorama. Im Vordergrund die Tannheimer Berge mit den Felspyramiden von Gehren- und Köllenspitze (2367m bzw. 2238 m) sowie dem Gimpel (2173 m).
In der Tiefe ist Grän im Tannheimer Tal zu sehen, von wo aus man ebenfalls auf diversen Routen auf den Aggenstein steigen kann.
Von der Schulter zieht der Weg schließlich hinauf zum Gipfelaufbau des Aggensteins, wo nochmal ein wenig geklettert werden muss, leider über von unzähligen Wanderern glatt geschliffenen Fels. Barfuß ist das ja einerseits eine Wohltat. Andererseits bieten die glatten Oberflächen für bare Füße wenig Grip. Der Berg ist einfach ein überaus beliebtes Ziel und dank der Bergbahnunterstützung, auch von Grän aus, leicht zu erreichen. Bei Nässe möchte ich hier jedenfalls nicht unterwegs sein…
Auf dem Gipfel
Nach wenigen Minuten ist aber auch das geschafft. Am Gipfel muss man sich nicht vor Einsamkeit fürchten. Da ist die Hölle los. Den Mann mit Hut, der da gerade seine Lieben fotografiert, bemerke ich zunächst noch nicht, später dann aber um so mehr…
Auf dem Gipfel kann man sich übrigens gleichzeitig in Deutschland und Österreich aufhalten, denn die Grenze verläuft genau über diesen Berg, mit Grenzsteinen markiert.
Die Aussicht ist einfach phantastisch. Nach Norden hin reicht sie weit ins Alpenvorland mit der Füssener Seenlandschaft, wo wir zu Hause sind.
Nach Süden, Westen und Osten fällt der Blick auf unzählige Bergspitzen, so den Säntis in der Schweiz, die eindrucksvolle Pyramide des Hochvogels in den Allgäuer Alpen, die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze, das Wettersteinmassiv mit der Zugspitze, und und und…
Etwas tiefer liegt die Kissinger Hütte, über die der Rückweg führen soll.
Abstieg zur Kissinger Hütte
Zuvor muss ich aber durch das inzwischen reichlich bevölkerte Gipfelmassiv mit seinen glatten Felsen absteigen. Ich bleibe weiter barfuß, habe aber tatsächlich zuweilen etwas Probleme, genügend Halt zu finden.
Weiter geht es über einen Geröllpfad barfuß hinunter, bis ich mir irgendwann trotz aller Vorsicht doch einen Zeh blutig stoße. Der Zeitpunkt ist gekommen, meine Aqua Sphere anzuziehen. Als ich das gerade mache, werde ich angesprochen. Und zwar vom Mann mit Hut, dem vom Gipfel, ihr erinnert Euch vielleicht. Er interessiert sich sehr für meine Barfußwanderei, und das aus einem bestimmten Grund: Er läuft selbst seit 4 Jahren barfuß. Joachim heißt der sympathische Typ und kommt aus der Rhönregion, die offenbar ein tolles Barfußgebiet ist, wie er mir erzählt. Noch ist er mit Schuhen unterwegs, aber in der Nähe der Kissinger Hütte wird der Weg besser und wir ziehen beide die Schuhe wieder aus.
Natürlich sind wir weiter in Kontakt und vielleicht können wir irgendwann mal hier einen Gastbeitrag von ihm lesen.
Auf der einladenden Sonnenterrasse der Kissinger Hütte lege ich eine längere Rast ein, bevor ich mich auf den Rückweg zur Bergstation der Breitenbergbahn mache.
Hinunter über den „Bösen Tritt“
Von der Kissinger Hütte gibt es mehrere Abstiegsmöglichkeiten. Zum einen Richtung Tannheimer Tal, wo man direkt zu einem Wanderparkplatz absteigen oder (für Leute wie mich) alternativ mit weniger Höhenunterschied zur Bergstation der Bergbahn zum Füssener Jöchle wandern kann. Zum anderen eben Richtung Norden über einen steilen Wanderweg, den „Bösen Tritt“, hinunter zur Breitenbergbahn. Wenn man möchte und die Zeit reicht, kann man auch ohne Bahnunterstützung durch die Reichenbachklamm ins Tal absteigen.
„Böse“ ist der Weg nicht wirklich, aber eben steil und steinig. Ich ziehe wieder meine Notschuhe an, denn zum einen wird so der Abstieg wesentlich angenehmer und weniger verletzungsgefährlich, zum anderen bin ich wesentlich schneller unterwegs. Irgendwann schließt ja die Bahn und ich mag nicht laufen…
Unterwegs ist der Weg gesäumt von Trollblumen…
…und Gämsen.
Der Blick geht zurück zum Aggenstein.
Schließlich bin ich wieder unten auf der Alm. Hier wird im Winter Ski gefahren.
Kurz vor Toresschluss erreiche ich die Bergstation der Kabinenbahn und schwebe wieder gemütlich hinab ins Tal.
Schön war`s auf dem Aggenstein. Aber der Berg is scho a bisserl überlaufen, wenngleich die Routen von Grän aus wohl doch wesentlich beliebter sind.
Ob ich nochmal raufsteige, wird sich zeigen. Aber halt, Eva war noch nicht oben. Und alleine schicke ich sie lieber nicht auf den Strich…
Ich bin Jahrgang 1955, Vater zweier erwachsener Töchter, und verbringe seit dem Sommer 2016 viel Zeit im traumhaft schönen Allgäu bei Füssen, wo Eva schon länger ihr Zelt aufgeschlagen hat. Hier kann ich zusammen mit ihr meiner Berg- und Radfahrleidenschaft frönen. Barfuß lebe ich seit 2012. Ich bin Autor von „Fünf Jahre barfuß„.