Matthias Groll über intensive Bodenerfahrungen und sein Indienbuch
Schuhe gelten in Indien als unrein. Sowohl in hinduistischen Tempeln als auch bei Hausbesuchen sind sie auszuziehen. Den Schmutz der Straße möge man zwar auch im Westen nicht nach Hause tragen, der Barfußmodus in Indien aber ist eine Selbstverständlichkeit, egal wie schmutzig die Füße sind. Schmutzigen Fußes darf man nach Hause.
Wenn Kleinkindern keine Schuhe angeschnallt werden, werden sie nachhaltig resistent gegen Kieselsteine und Kälte. Als Erwachsene werden sie problemlos auch im Winter den Tempel besuchen können und barfuß den Himalaya besteigen. Es ist in Indien so, dass es einfach keine Schuhe braucht, um durchs Leben zu kommen. Man trifft auf der Straße auch Professoren ohne Schuhe. Indien ist Barfußland.
Zumal: Barfuß gibt Halt! Man ist unmittelbar mit dem Boden verbunden, keine Gummi- oder Lederschichten stören zwischen Körper und Erde. Die Zehen erkunden die Welt, und der Fuß erlebt ganz unmittelbar, was Sache ist. Das Metaphysische des „ach, es ist so schön, das feuchte Gras zu spüren“ scheint mir in Indien als nicht gegeben. Das wäre Kitsch. Weil es einfach naturgegeben ist, barfuß das feuchte Gras zu spüren. Oder die Straße oder den kantigen Bergweg.
Flip Flops (Chappels) sind dem Barfußmodus an-verwandt. Es ist erstaunlich, wie abgelatscht sie in Indien noch genutzt werden. In meinem Buch „Wenn Shiva wütet, wackelt die Welt“ schreibe ich: Man hat jeden Schritt achtsam zu tun, will man nicht in Löchern zwischen Bodenplatten, im Abwasserkanal oder in Kuhfladen geraten. Da die Füße verletzlich sind, achtet man umso bewusster auf jeden Tritt. Man konditioniert sich auf die unmittelbare Bodenbeschaffenheit und die Geländesituationen machen den Fuß geradezu zu einem Wahrnehmungsorgan.
Ob in Badeschlappen oder barfuß, in meinem Buch schaue ich dem Inder ins Gemüt: „Der Hinduismus als Abenteuer im Alltag Indiens“ folgt in barfüßiger Leichtigkeit des Seins den Seelenverwandlungen, für die Indien bekannt ist. Ich lerne die zahlreichen Götter kennen, und, klar, sie werden alle barfuß dargestellt, immer.
Das bodenauthentisch nackte Erspüren historischen Steins in alten Tempeln ist eine sinnlich intensive Erfahrung. Die Kräfte, die baren Fußes in den Körper dringen, erwirken ein Einswerden mit der Welt. Und sowieso: man wird ja wohl kaum in Schuhen meditieren!
Zum Glück sind Indiens Straßen weitgehend glasscherbenfrei, weil Flaschen als Pfandflaschen wertvoll sind. Als ich irgendwo in der Mittagssonne aus dem Bus stieg, machte ich den Barfußtest. Es war mir unmöglich, auf der Glut zu gehen, denn der Asphalt war kochplattenheiß. Diesbezüglich haben mir die Inder einiges voraus: Wie Fakire strotzen sie barfuß auch dem Extremsten.
Die Freiheit vor der Schuhenge ist also neben der kulturellen Codierung eine Frage von Gewohnheit und Training. Die Waldböden in Teilen des Himalaya sind übersät mit den langen Nadeln der Deodar-Zeder. Sie sind regelrecht damit gepolstert und weich wie Heu. Man kann ganz wunderbar barfuß wandern, nichts zwickt. Also: nix wie hin!
Matthias Groll
Mein Buch
Wenn Shiva wütet, wackelt die Welt
Der Hinduismus als Abenteuer im Alltag Indiens
216 Seiten
Preis: 19,80 Euro
ist erhältlich bei Buch7 in jeder guten Buchhandlung oder direkt beim Draupadi Verlag
Anm. der Reaktion: Auf der Website: wennshivawuetetwackeltdiewelt.de steht eine Leseprobe bereit und Du erfährst mehr über den Autor
Jahrgang 1966, Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Lebt seit 2015 ganzjährig barfuß. Hobbys: Wandern, Radfahren, Ideen in Projekte umwandeln. Autorin von „Garten planen wie ein Profi“ und „Zuckerfrei essen jeden Tag„. Lebt mit Wolfgang im wunderschönen Allgäu.
Indien ist schon seit langer Zeit ein großer Traum von mir;)
Hallo!
Ich war noch nicht in Indien, bin jetzt auch nicht gerade der Reiselustigste, bin dann eher in Deutschland und vielleicht den umliegenden Ländern unterwegs, aber ich denke mal, dass es sicher auch darauf ankommt, wo in Indien man ist. Ich las schon, dass sich Kinder in einem Fluss waschen, durch den Fäkalien und nicht nur von Rindern fließen, es sei auch alles völlig vermüllt.
Über den Rattentempel sah ich im Fernsehen mal einen Bericht und googelte daraufhin auch mal danach. Den Hintergrund kenne ich: die Inder sehen Ratten als heilige Tiere an, doch in dem Bericht wurde gesagt, dass viele Tiere in dem Tempel verenden und überall liegt der Kot herum, dort geht man dann barfuß: also nein, Meines wäre das nicht.
Liebe Grüße,
Andi
Zum Rattentempel: Der hat genug personal, es wird ständig gefüttert (mit süßem milchreis … ratten vertragen vieles) und geputzt. Von daher habe ich es nicht als schlimm empfunden.
Ratten als heilige tiere: Ja, im tempel. Über den innenhof ist ein netz gespannt, damit sich greifvögel nicht bedienen. Anders ergeht es jenen tieren, die den weg nach draußen finden, so hängt dort an laternenpfählen werbung von kammerjägern, die sich um ratten in wohnungen und vorratskammern kümmern.
Auch wenn es bemühungen zur sauberhaltung gibt (straßenkehrer mit besen, oft angehörige unterpriviligierter kasten, weil sich brahmanen für so eine niedere arbeit zu schade sind …), sind doch immer wieder müllhaufen zu sehen. Allerdings wenig scherben oder andere unmittelbare gefahren. Ob es unter diesen umständen eine überwindung ist, in der stadt barfuß zu gehen, bleibt jedem selbst überlassen. Die in einem anderen beitrag erwähnten großfamilien in heiligen städten sind da völlig schmerzlos.
Als umweltbewusster Europäer weiß ich, flüsse sauberhalten ist nicht so schwierig, es müssten einfach keine abwässer mehr eingeleitet und überall kläranlagen errichtet und zuverlässig betrieben werden. Dass den Indern ihre flüsse (vor allem der Ganges) einerseits heilig sind, sie es andererseits immer noch nicht fertigbringen, sie sauberzuhalten, darüber habe ich auch den kopf geschüttelt. Ebenso wie neben straßen und bahnlinien überall abfall liegt, der einfach aus dem fenster geworfen wird. In sachen abfallentsorgung (wie die reinhaltung von luft und gewässern) hat dieser subkontinent noch immer einen riesigen nachholbedarf.
Ich möchte gerne nochmal hin, aber dann nach möglichkeit aus den großstädten raus und die landschaft bzw. das ländliche leben kennenlernen.
Andi,
Indien ist nicht das, was man im Fernsehen zu sehen bekommt oder was man in Büchern liest. Indien ist nicht auf einen Ort oder einen Glauben oder eine Sitte beschränkt.
Obwohl viele altmodische, abergläubische Inder Ratten als heilige Tiere betrachten, gibt es ebenso viele vernünftige Inder, die sie einfach als Nagetiere behandeln. Nichts anderes.
Ich hasse den Anblick von Ratten, aber es gibt Menschen in Dörfern, die friedlich mit ihnen leben und sich durch ihre Anwesenheit in ihren Häusern nicht gestört fühlen.
Das Paradoxe ist jedoch, dass viele Inder Lord Hanumana in einem Affen sehen, aber sie sehen Lord Rama nicht in einem menschlichen Wesen.
Ich war 2012 in Indien. Damals habe ich mich noch nicht so recht getraut, denn die Städte sind doch nicht so sauber, wie wir das aus Europa kennen. Aber auf weiteren Reisen würde ich es auf jeden Fall so wie die Einheimischen tun und (mindestens) überall barfuß gehen, wo sie das auch tun.
Also war ich nicht überall barfuß, aber doch in einigen Situationen, wo das angenehm war.
Vor allem in heiligen Städten wie Varanasi habe ich ganze Familien barfuß gehen gesehen. Keine Sadhus, sondern offenbar wohlhabende Großfamilien mit Großeltern und Kleinkindern, und das nicht nur im Tempel, sondern überall. Ist ein sehr beliebtes Pilgerziel unter Hindus. Dort an den Ghats war ich dann auch barfuß.
Ähnlich ist es in Amritsar, wo die Sikhs ihr Zentralheiligtum haben („Goldener Tempel“). Dort dürfen keine Schuhe hereingebracht werden; es gibt eine Rinne mit warmem Wasser am Eingang, so dass im gesamten (blitzblank geputzten) Areal nur saubere nackte Füße zu sehen sind, dabei sind auch „Ungläubige“ sehr willkommen und bekommen sogar etwas zu essen.
In der Businesswelt und Politik herrschen dann allerdings doch wieder Anzüge in europäischem Stil vor, da würden Barfüßler auffallen …
Ich wurde nur einmal gebeten, Sandalen anzuziehen: bei einem Kamelritt in der Wüste Thar (bei Jaisalmer). Grund: Es ist stellenweise sehr steinig bzw. wachsen Disteln und ein Abstieg wäre nicht immer ungefährlich. Auf dem Kamel hätte ich keinerlei Schwierigkeit gesehen … vielleicht waren die Guides dort etwas übervorsichtig.
Nett war auch der Besuch im Rattentempel Deshnok.
Irgendwann möchte ich mal nach Südwest-Indien reisen, wieder selbstorganisiert mit öffentlichen Verkehrsmitteln (das Zugsystem dort funktioniert relativ gut, auch wenn keine europäischen Pünktlichkeitsansprüche gestellt werden dürfen und auf Anschlüsse kein Verlass ist). Womöglich sogar mal irgendwo abgelegene Landschaften mit dem Fahrrad erkunden und vielleicht jene Einheimischen finden, die in Touristen nicht nur „Geldsäcke zum Ausnehmen“ sehen.
Finden sich weitere Barfuß-Individualreisende als Begleiter?
Hallo,
ich möchte betonen,dass ich noch nicht in Indien war. Deshalb ist meine Frage wirklich ganz sachlich zu sehen.
Ist es nicht häufig so,dass viele Menschen in Indien barfuß laufen,weil sie sich Flipflops geschweige denn Schuhe schlichtweg nicht leisten können?
Desweiteren möchte ich anmerken, dass Flipflops mitnichten gut sind für die Füße. Bei jedem Schritt müssen die Zehen entweder hochgezogen werden oder sich in den Flipflop krallen, was eine unnötige Spannung erzeugt.
Herzliche Grüße von einer Barfüßlerin!
Hallo Kerstin,
Du hast sicherlich recht: Arme können sich in Indien einerseits womöglich keine Flipflops leisten. Anderseits tragen Arme in Indien durchaus Flipflops. Ich denke, es ist eine Frage von Gewohnheit und Bedürfnis und die Frage halte ich nicht für leicht beantwortbar, weil tatsächlich Finanzielles elementar mit im Spiel sein kann. Schuhe oder Flipflops können durchaus Luxus sein.
Die Spannung bei Flipflops, von der Du sprichts, kenne ich nur in der Eingewöhnungsphase. Eine ganz andere Erfahrung machte ich, als ich mir in Indien neue Flipflops kaufte: Der Gummistoppen verursachte eine Wunde am Zeh. Man muss im Land höllisch auf Wunden aller Art achten, denn die Bakterienvielfalt ist groß. Siehe die Blutegelattacke in Kapitel 4 oder den Jungen mit der Wunde in Kapitel 2. Es ist ein wenig wie mit ungekochtem Wasser, das man nicht zu sich nehmen sollte, auch nicht am Salatblatt (Kapitel 3). Jedenfalls ist es mit dem Jungen in der Pampa am Anfang (Kapitel 1) so, dass er wohl einfach kein Schuhwerk in seiner Umgebung braucht.
Bei all dem halte ich die Inder für ziemlich begabt in der Schärfung der Sinne, sei es, den Boden in stetiger Wachheit durch zu Füße zu kontrollieren, sei es das akrobatische Mobilitätsvermögen im Straßenverkehr „wie am Trapez“ (Kapitel 1), sich ein Tuch um den Körper zu wickeln (Kapitel 3) oder den Tee (Chai) aus hohem Bogen ins Glas zu kippen. Die Schritte durchs Leben scheinen mir ungemein wach zu erfolgen. Man kann viel lernen da.
Liebe Grüße
Matthias
Es dürfte auch eine frage der prioritäten sein.
Wenn schuhe als schutz begriffen werden, dann sind sie auch nur nötig, wo es kälte oder gefahren gibt, vor denen geschützt werden muss.
Andererseits könnten schuhe im monsunregen, auf schlammigem boden usw. sogar hinderlich sein.
Historisch waren schuhe eher aufwendig zu fertigen bzw. nicht lange haltbar, weshalb es etliche kulturen geben dürfte, die (für das tägliche leben) erst gar keine schuhe entwickelt haben. Indien liegt zum großteil in klimatisch barfußfreundlichen breiten. Da gehören schuhe nicht zu den grundbedürfnissen, und wer barfuß aufgewachsen ist und sich vorzusehen weiß, wird eher in andere dinge investieren.
Bei meinem besuch habe ich festgestellt, Indien hat viele religionen. Als europäischer atheist betrachtete ich mich als gast und besuchte die gotteshäuser mit distanziertem respekt. Ob irgendwelche religionen bekleidungsvorschriften haben, die schuhe erfordern, weiß ich nicht. Jedenfalls ist es mindestens eine verbreitete sitte, wenn nicht sogar vorschrift, dass tempel, moscheen usw., ja auch christliche kirchen barfuß betreten werden.